Pressefreiheiten in Zeiten der Pandemie
Die Corona-Krise beherrscht die Medien weltweit. Doch repressive Staaten nutzen die Pandemie, um Fakten zu verschleiern und die Zensur zu verschärfen. Bei uns wird über Corona-Apps diskutiert, Journalisten werden körperlich angegriffen, Verschwörungstheoretiker verbreiten Fake News. Wir sprachen darüber mit Martin Kaul von "Reporter ohne Grenzen", der beim HIM-Preis 2019 den Preis für das Journalisten-Netzwerk erhielt.
HIM: Das Thema Corona beherrscht die Medien weltweit. Wie gehen autoritäre Staaten damit um?
Martin Kaul: Die Pandemie bündelt und verstärkt wie ein Brennglas die ohnehin vorhandenen Tendenzen in vielen Ländern – und zwar leider vor allem die negativen. Notorisch repressive Regimes wie in China, Iran oder Ägypten verwenden sehr viel Energie darauf, die Deutungshoheit über die Krise zu monopolisieren. Deshalb gehen sie rigoros gegen unabhängige Berichte vor, die die offizielle Darstellung der Lage in Zweifel ziehen. Zugleich ist das Coronavirus für sie ein Totschlagargument, mit dem sich jede Opposition oder Kritik abbügeln lässt, ohne dadurch international allzu sehr in Rechtfertigungszwang zu geraten - denn die Krise rechtfertigt momentan ja praktisch überall ungewöhnliche Einschränkungen.
HIM: Erkennen Sie Muster in der Unterdrückung unerwünschter Nachrichten? Zum Beispiel: Russland - USA?
Martin Kaul: Viele Regierungen wollen das Ausmaß der Pandemie im eigenen Land verschleiern und unbedingt den Eindruck vermeiden, sie hätten die Lage nicht unter Kontrolle. Was das konkret heißt, kann von Land zu Land sehr unterschiedlich sein. Russland zum Beispiel reagiert mit Zensur, blockiert massenhaft vermeintliche Falschmeldungen und droht Medien bei Verstößen mit Lizenzentzug. Die Situation in den USA ist damit überhaupt nicht zu vergleichen. Dort polemisiert der Präsident in gewohnter Weise gegen kritische Medien und stiftet mit seinen erratischen Äußerungen zur Krise selbst Verwirrung. Auch das ist natürlich sehr bedenklich, aber mit der Situation in wirklich repressiven Staaten dann doch nicht zu vergleichen
HIM: Wo sehen Sie die schlimmsten Veränderungen?
Martin Kaul: Besonders schlimm ist die Lage sicher in China. Dort sind mehrere Menschen verschwunden, die zum Beispiel die Probleme beim Krisenmanagement während der Quarantäne in der Millionenstadt Wuhan dokumentiert haben oder die zensierte Berichte erneut online gestellt haben. Auch das Ausmaß, in dem die digitale Überwachung in China nochmals ausgeweitet wurde, ist erschreckend. Im Iran nimmt die Justiz mitten in der Corona-Krise weitere Medienschaffende in Haft, anstatt schwer kranke politische Häftlinge freizulassen, die in den überfüllten Gefängnissen des Landes akut ansteckungsgefährdet sind. Auch in Ägypten, Bangladesch und der Türkei sind Journalistinnen und Journalisten wegen ihrer Corona-Berichterstattung festgenommen worden.
HIM: Nutzen diese Staaten Corona als Vorwand, um Zensurmaßnahmen zu verstärken?
Martin Kaul: Definitiv ja. In einigen Ländern wurden unter dem Eindruck der Krise Gesetze gegen angebliche Falschberichte beschlossen oder verschärft. Dagegen müssen wir angehen und das müssen wir auch weiter sehr genau beobachten. Was wahr und was falsch ist, dürfen natürlich nicht Regierungen bestimmen. Die Entwicklung ist daher besorgniserregend. Wir rechnen leider nicht damit, dass diese Gesetze nach dem Ende der Pandemie wieder zurückgenommen werden.
HIM: Welche Rolle spielen Fake News?
Martin Kaul: In Krisen wie jetzt in der Corona-Pandemie gibt es leider immer Akteure, die Falschmeldungen in die Welt setzen, um Verunsicherung zu schüren. Zum Teil sind es Regierungen, die selbst Nebelkerzen werfen, um von eigenem Versagen abzulenken. Und bezeichnenderweise erlassen teils gerade die Regierungen die schärfsten Gesetze gegen dieses Phänomen, die selbst im Verdacht stehen, Falschberichte zu verbreiten. Schon deshalb lässt sich solcher Desinformation nicht mit immer noch schärferen Gesetzen beikommen, die im Zweifelsfall zu Missbrauch einladen.
HIM: Wie verifizieren Sie Ihre Informationen?
Martin Kaul: Wir bei RSF Reporter ohne Grenzen haben ein eigenes internationales Netzwerk aus Korrespondentinnen und Korrespondenten in sehr vielen Ländern. Wenn es dort Nachrichten und Entwicklungen gibt, die für unsere Arbeit von Interesse sind, werden sie aktiv und recherchieren, damit wir gesicherte Informationen verbreiten können. Daneben pflegen wir Kontakte zu Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsaktivistinnen und Journalisten in aller Welt, die uns ebenfalls dabei helfen, uns ein verlässliches Bild von der Lage vor Ort zu machen.
HIM: Sie kritisieren das System der Überwachung in China, das mit Covid-19-Apps noch einmal massiv ausgeweitet wurde. Aber auch andere Staaten, darunter Südkorea, nutzen solche Apps, um sensible Daten zu sammeln. Wie stehen Sie zu einer solchen Corona-App?
Martin Kaul: Sorge bereitet uns vor allem, dass manche Regierungen mit solchen Apps Daten sammeln, die weder zum Infektionsschutz nötig noch mit dem Schutz von Grundrechten wie Datenschutz und Pressefreiheit vereinbar sind. Da bekommen Regierungen Zugriff auf Standortdaten, Bewegungsprofile und teils auf die Kontakte Hunderter Millionen von Menschen. Das birgt ein enormes Missbrauchspotenzial, gerade wenn man an den Schutz journalistischer Quellen denkt. Deshalb dürfen solche Apps aus unserer Sicht nur unter strengen Voraussetzungen eingesetzt werden: Sie dürfen nur so viele Daten speichern wie unbedingt nötig, sie müssen als Open-Source-Software und damit unabhängig überprüfbar konzipiert sein, ihr Zweck muss eng begrenzt sein und darf keinesfalls nachträglich ausgeweitet werden.
HIM: Auch in Deutschland verändert Corona die Berichterstattung. Pressekonferenzen finden ohne Journalisten statt, es gibt Verlautbarungen statt kritischer Nachfragen. Auf der anderen Seite werden Bürger stündlich mit neuen Zahlen, angeblichen Fakten und wissenschaftlichen Meinungen bombardiert. Müssen Journalisten da nicht auch selbstkritisch sagen: Wir tragen zu Desinformation und Verwirrung bei, weil wir Einschaltquoten und Leser brauchen?
Martin Kaul: Journalistinnen und Journalisten sollten die eigene Arbeit immer selbstkritisch hinterfragen, und das passiert ja auch. Von Desinformation würde ich in diesem Zusammenhang aber nicht sprechen. Die Herausforderung in der Corona-Berichterstattung liegt eher darin, einerseits verlässlich und in der gebotenen Breite über die staatlichen Maßnahmen zum Infektionsschutz zu informieren, ohne andererseits die nötige gesellschaftliche Diskussion über die damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen zu kurz kommen zu lassen. Einschränkungen wie Pressekonferenzen ohne direkte Nachfragemöglichkeit sind allenfalls in der akuten Krisensituation zu rechtfertigen und dürfen nicht zur Gewohnheit werden. Längerfristig gibt es aber noch ganz andere Gefahren zum Beispiel durch das Wegbrechen von Werbeeinnahmen bei vielen Medienhäusern. Wenn das zu einem großen Mediensterben führen würde, wäre es fatal für den Medienpluralismus in Deutschland.
HIM: Wie beurteilen Sie die Angriffe auf ARD- und ZDF-Fernsehteams in jüngster Zeit?
Martin Kaul: Die Häufung solcher Angriffe in jüngster Zeit ist erschreckend. Letztlich richten sie sich gegen das Grundrecht auf Presse- und Meinungsfreiheit. Die Gefahr ist, dass solche Angriffe Journalistinnen und Journalisten verunsichern und dass sie dann weniger von Demonstrationen berichten, bei denen sie mit Gewalt rechnen müssen. Dabei ist es gerade in einer Krise wichtig, dass Medienschaffende ohne Angst vor Gewalt berichten können, damit sich die Menschen umfassend informieren und sich eine eigene Meinung bilden können.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
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